Heutige Tariflandschaft: Blick aus Sicht des Spitalverbandes H+
Christoph Schöni, Leiter Geschäftsbereich Tarife und Mitglied der Geschäftsleitung von H+, im Interview
Sie sind seit einem Jahr bei H+. Welche Ausgangsbasis haben Sie vorgefunden? Wohin soll es mit dem Bereich gehen?
H+ ist in der Vergangenheit von seinen Mitgliedern rein für Arbeiten in Zusammenhang mit den Tarifstrukturen mandatiert worden. Diese langjährige Arbeit von H+ ist unbestritten. Der Bereich Tarife befindet sich aktuell in einer Phase der Neuorientierung. Ziel ist es, den Bereich Tarife zu repositionieren und ihn zu einem zentralen Geschäftsbereich innerhalb des Spitalverbands auszubauen. Als Kompetenzzentrum soll der Bereich die Verbandsmitglieder möglichst umfassend und ganzheitlich in den verschiedenen Fragestellungen rund um die Spitaltarife unterstützen. Angedacht ist, dass wir in den verschiedenen Dossiers auf nationaler Ebene auch eine aktivere Funktion einnehmen. Die damit einhergehende Neudefinition der Rolle des Geschäftsbereichs erfolgt hierbei in enger Absprache mit unseren Mitgliedern und abgestimmt auf deren Bedürfnisse. Zum einen ist eine stärkere Koordinations- und Unterstützungsfunktion gewünscht. Zum anderen wird H+ auf Mandatsbasis Tarifverhandlungen begleiten oder diese selbst für seine Mitglieder führen.
Was konnten Sie bislang bereits erreichen?
Rückblickend ziehe ich eine erste positive Zwischenbilanz meiner Tätigkeit: Im ersten halben Jahr konnten wir eine neue Tarifstrategie für H+ aufsetzen und gemeinsam mit unseren Mitgliedern verabschieden. Zudem konnten wir als Spitalverband bei ausgewählten Tarifverhandlungen als Branche auftreten. Dieses Vorgehen verleiht uns mehr Kraft als einem einzelnen Spital. So blicken wir auf einen erfolgreichen Abschluss des Tarifvertrags für die diagnostische Neuropsychologie mit der Einkaufsgemeinschaft HSK und dem Verband Schweizerische Vereinigung der NeuropsychologInnen (SVNP | ASNP) zurück (zum Newsletter Artikel «Tarifvertrag diagnostische Neuropsychologie»). Mit der Medizinaltarif-Kommission UVG (MTK) haben wir einen nationalen Muster-Vertrag SwissDRG auf den Weg gebracht. Im Hinblick auf die CAR-T-Zelltherapie laufen derzeit Gespräche im Verbund mit allen Versicherern, um für 2021 eine breit abgestützte Übergangslösung zu finden. (zum Newsletter Artikel «HSK stellt vor: Neue Tarifmanagerin Pharma & Diagnostik»). Kurzum: «Wo wir das Gefühl haben, das lässt sich national gut regeln und das können wir gut zusammen mit unseren Mitgliedern umsetzen, da werden wir als H+ zukünftig durchaus eine aktive Rolle einnehmen».
Das Jahresthema der Einkaufsgemeinschaft HSK lautet «Heutige Tariflandschaft – Weg in die Zukunft oder Sackgasse?» Wie lautet Ihre Antwort auf diese Fragestellung?
Im stationären Bereich haben wir mit SwissDRG und TARPSY zwei gut funktionierende Tarifstrukturen. Sie stehen auf einem soliden Fundament und sind zukunftsfähig. Hier sind wir bereits auf einem guten Weg – wenngleich es immer noch Herausforderungen zu bewältigen gibt.
Im ambulanten Bereich stellt sich die Situation hingegen anders dar. Hier müssen wir zunächst ein zukunftsfähiges Fundament aufbauen. Meiner Meinung nach haben die Tarifpartner eine lange Phase durchgemacht, in der sie allesamt in eine Sackgasse gelaufen sind. In der Vergangenheit wurden auf beiden Seiten des Verhandlungstisches Maximalforderungen gestellt, durchaus mit guten und nachvollziehbaren Argumenten. «Ich habe das Gefühl, alle Tarifpartner haben zwischenzeitlich realisiert, dass wir die Herausforderungen nur gemeinsam angehen und lösen können. Wenn wir am Schluss nicht einfach alles den Behörden übergeben wollen, dann braucht es auf beiden Seiten des Verhandlungstisches Kompromisse und als Ergebnis tarifpartnerschaftliche Lösungen. Nur so lässt sich die Zukunft gestalten. Alles andere wäre eine Bankrott-Erklärung.»
Was bedeutet dies nun konkret?
Es gibt eine Reihe von Aspekten, die im stationären Bereich sehr gut gelöst sind: Tarifbüro, Datengrundlage und lernendes System. Diese Grundpfeiler gilt es in andere Tarifbereiche zu übertragen. Eine eigene, professionell aufgestellte Organisation mit einer gesetzlichen Legitimation ist das A und O. Überall, wo ein solches Tarifbüro fehlt (z.B. im ambulanten Bereich) sitzen Interessensvertreter am Verhandlungstisch, die ihre Maximalforderungen durchzusetzen versuchen. Kompromisse und Lösungen lassen sich auf diesem Weg nicht oder nur erschwert finden. Des Weiteren muss die Tarifstruktur primär auf Routinedaten (Kosten und Leistungen) der Leistungserbringer basieren. Diese Datengrundlage muss es ermöglichen, die Tarifstruktur kontinuierlich weiterzuentwickeln und sie als lernendes System rasch an die medizinischen und ökonomischen Entwicklungen anzupassen.
Wir können in der Schweiz auf 10 Jahre SwissDRG zurückblicken. Welche Hoffnungen haben sich mit der Einführung der neuen Spitalfinanzierung erfüllt?
Die neue Spitalfinanzierung an sich vermochte es, den Anreiz für eine wirtschaftliche Leistungserbringung zu verstärken. Den Spitälern ist hierbei die Gratwanderung zwischen Effizienzausrichtung einerseits und Patientenwohl andererseits gelungen. Die Harmonisierung der Tarife in einer zuvor heterogenen Tariflandschaft im akutstationären Bereich ist ebenso eine Errungenschaft. Ein weiterer grosser Erfolg ist es, dass wir mit der Tarifstruktur mittlerweile rund 90 Prozent der Fälle bzw. des Leistungsvolumens relativ betrachtet korrekt bewerten können. Wir haben damit ein lernendes System, das die Leistungen – insgesamt betrachtet – fair bewertet.
Welche Herausforderungen müssen aus Sicht H+ noch gelöst werden?
Wir haben weiterhin 10 Prozent der Fälle bzw. des Leistungsvolumens, die auch nach 10 Jahren noch nicht adäquat abgebildet werden können (z.B. Hochdefizit-Fälle). Teilweise werden solche Probleme zwar über eine differenzierte Baserate gelöst. Für die betroffenen Spitäler ist es jedoch sehr herausfordernd, den Nachweis hierüber zu erbringen. Hier gibt es in Punkto Benchmarking aus unserer Sicht noch Entwicklungspotential. Eine weitere Herausforderung liegt darin, Innovationen rasch ins System zu integrieren. Das System ist zwar als lernendes System konzipiert und bildet die Weiterentwicklungen insgesamt gut ab. Trotzdem gibt es Verzögerungen, die bei Innovationen zu Problemen führen.
Zudem gibt es erhebliche Unterschiede zwischen Versicherern im operativen Geschäft der Rechnungsabwicklung. Die Erwartung, dass sich mit steigender Erfahrung die Rückfragen oder Berichtsanfragen auf den Einzelfällen seitens der Versicherer reduzieren, blieb bis anhin unerfüllt. Dort, wo es ein zu grosses Missverhältnis zwischen Rückfragen einerseits und Korrekturen der Rechnungsstellung andererseits gibt, sollte nachgebessert werden.
Ist die systematische Unterfinanzierung im stationären Bereich nicht eher der aktuellen Investitionstätigkeit der Spitäler geschuldet?
Aus meiner Sicht hat der Gesetzgeber gewisse Fehlüberlegungen gemacht. Wer ein wettbewerbliches System wie die Spitalfinanzierung einführt, der muss sich bewusst sein, dass die Spitäler wie Unternehmen am Markt agieren. Sie investieren, mit dem Ziel, ein wettbewerbsfähiges Leistungsspektrum für die Bevölkerung, die sie versorgen müssen, anzubieten. Wir diskutieren in der Schweiz aktuell eine Strukturbereinigung der Spitallandschaft. Einer solchen hätte es vor Einführung der Spitalfinanzierung bedurft. Die Frage, an welchen Standorten man Spitäler betreibt und wo nicht, ist Sache der Politik. Wir brauchen einen politisch-gesellschaftlichen Konsens darüber, welche Leistungen wir wohnortsnah und welche wir zentralisiert erbringen.
Sie haben die Konzeption von SwissDRG als lernendes System betont. Welche Rückschlüsse können wir aus diesem Bereich für die Einführung eines neuen Tarifsystems wie TARDOC oder ST Reha ziehen?
Die Erfolgsgeschichte von SwissDRG ist, dass die Tarifstruktur auf zwei Datensätzen aufbaut, die empirisch aus Standarddatensätzen der Leistungserbringer gewonnen werden. Sie sind sauber definiert und weisen eine hohe Qualität auf. Einerseits zählt hierzu der Leistungsdatensatz, der sich aus den Diagnosekodes nach ICD-10 sowie den Behandlungskodes nach CHOP speist. Andererseits gehört der Fallkostendatensatz nach REKOLE® dazu. Neue Tarifsysteme sollten so konzipiert werden, dass die empirischen Daten aus Standarddatensätzen der Leistungserbringer heraus generiert werden.
Wie stehen Sie zu TARMED und zum Nachfolger TARDOC? Wie sieht es mit ambulanten Pauschalen aus?
TARMED ist nicht nur heillos veraltet, es ist auch als lernendes System gescheitert. Man bräuchte für TARMED eigentlich eine Datengrundlage, die in der benötigten Form vor Ort bei den Leistungserbringern weder existiert noch entwickelbar ist. Da der TARDOC aus unserer Sicht in den wesentlichen Elementen auf dem TARMED basiert, verfolgen wir als Spitalverband, dessen Mitglieder fast die Hälfte der ambulanten Leistungen erbringen, einen anderen Ansatz: «Wir überlegen uns konsequent, welche Leistungssettings sich zum Pauschalieren eignen. Diese sollten wir nach der Logik von SwissDRG, TARPSY oder zukünftig ST Reha pauschalieren». Es gibt unbestritten Leistungsbereiche oder Leistungssettings, die weiterhin eine Zeit- oder Einzelleistung erfordern. Bei der Datenerhebung sollten wir dort weitestgehend auf Studien verzichten und stattdessen primär auf Routinedaten der Leistungserbringer abstellen. Die Datenerhebung muss mit möglichst geringem Aufwand erfolgen. Dieses Vorgehen ist Voraussetzung für eine hohe Datenqualität.
In welchen Bereichen eignen sich Pauschalen? Wo liegen die Grenzen?
Überall dort, wo die Leistungserbringung ressourcenintensiv (d.h. mit Gerätschaften, zusätzliches Personal) erfolgt, eignet sich aus unserer Sicht eine Abgeltung über Pauschalen. Zu nennen sind alle Arten von operativen Eingriffen, der Bereich der Bildgebung, Strahlen- und Radiotherapie, Nuklearmedizin, Endoskopie und allenfalls auch umfangreichere Funktionsuntersuchungen. Dort ist eine intensivere Infrastruktur von Nöten; zudem kommt neben ärztlichem auch nicht-ärztliches Personal zum Einsatz.
Grenzen haben Pauschalen in allen Leistungssettings, in denen eine grosse Variabilität besteht. Dies ist bei «1 zu 1 Situationen» zwischen Arzt und Patient der Fall. Hierzu zählen beispielsweise Gespräche und Konsultationen oder einfache Untersuchungen. Je nach Patienten kann der Zeitbedarf stark schwanken. Natürlich ist das Pauschalierungspotential von Spitälern im ambulanten Setting grösser als dasjenige der selbständigen Ärzte bzw. der freien Praxis.
Die Einführung von ST Reha im Jahr 2022 rückt in greifbare Nähe. Wie stehen Sie dieser gegenüber?
Im Gegensatz zu anderen Bereichen ist die Rehabilitation volumenmässig sehr klein. Es stellt sich daher die Frage, ob es für dieses Gebiet Sinn macht, in ein solch komplexes Tarifsystem zu investieren. Grundsätzlich sehe ich es als sinnvoll an, in der Rehabilitation eine national einheitliche Tarifstruktur zu hinterlegen. Die Codierung spiegelt jedoch aktuell noch nicht die Versorgungsrealität wider. Dies betrifft zum einen das generelle Verhältnis zwischen aufwändigen und einfachen Patientenfällen. Zum anderen wird das Tarifsystem noch nicht der unterschiedlichen Definition von Rehabilitation gerecht. Diese unterscheidet sich in der Romandie erheblich von der in der Deutsch-Schweiz und dem Tessin. An all diesen Punkten muss noch nachgebessert werden, um eine faire Abgeltung zu erhalten.
Was braucht es für die Einführung, damit ST Reha ein Erfolg wird?
Es braucht von allen Tarifparteien den Willen, eine gute, partnerschaftliche Einführung von ST Reha sicherzustellen. Ähnlich, wie wir das bei der Einführung von TARPSY erlebt haben.
Wenn man beabsichtigt, im Jahr 2022 einen einheitlichen Preis für alle Rehakliniken zu definieren, wird man den unterschiedlichen Behandlungs- und Versorgungssituationen der Kliniken nicht gerecht. Dann gibt es Kollateralschäden. Unsere Mitglieder sind aktuell daran, ihre Prozesse und Systeme aufzurüsten und anzupassen. Damit erhalten wir zukünftig eine gute Datengrundlage. Diese gilt es dann stetig zu verbessern und zu optimieren. Wenn uns in Zukunft eine gute Ausdifferenzierung unter ST Reha gelingt, werden sich auch die Preise von der Höhe her bis zu einem gewissen Grad angleichen können. Ein faires Benchmarking, als Grundlage für die zukünftigen Preisverhandlungen, ist somit ebenso eine der grossen Herausforderungen. Hier sind wir als H+ optimistisch, dass dies im Reha-Bereich gelingen kann.
Wenn Sie allein entscheiden könnten: Wo würden wir mit der Tariflandschaft der Schweiz in 10 Jahren stehen?
Zentral für das Überleben der Spitäler und Kliniken ist eine nachhaltige Finanzierung, insbesondere im Bereich der OKP. Die systematische Unterfinanzierung muss behoben sein. Weiter hoffe ich, dass wir in 10 Jahren für alle Leistungsbereiche professionelle, gesetzlich legitimierte Tariforganisationen und sich schnell anpassende, lernende Tarifsysteme haben. Ein weiterer Wunsch wäre, dass wir bis dahin die künstliche Trennung von stationär und ambulant aufgehoben haben. Zum einen sollten wir eine einheitliche Finanzierung im ambulanten Bereich haben. Zum anderen sollten sich Tarife nur noch am Leistungssetting orientieren. Zudem wäre es wünschenswert, wenn die Tarifierung bis dahin auch mit der Qualität und dem Behandlungserfolg verknüpft wird, sofern dies sinnvoll möglich ist. Am Schluss zählt bei allem aber nur eines: Das Patientenwohl.
Die Einkaufsgemeinschaft HSK feiert dieses Jahr ihr 10-jähriges Jubiläum. Wie hat HSK die Tarifverhandlungen und das Miteinander der Akteure mitgeprägt?
Die Verselbstständigung der drei Versicherer von HSK im Leistungseinkauf war für die Leistungserbringer ein Mehrwert. Wir konnten auf einmal Ideen mit einem weiteren Partner diskutieren. Dies hatte positive Effekte auf Verhandlungslösungen. HSK hat darüber hinaus mit dem Benchmarking einen neuen Gedanken bei den Tarifverhandlungen mit eingebracht. Weg von der Basar-Mentalität hin zu möglichst sachlichen Lösungen, auch wenn politisch gewollt unserer Meinung nach tendenziell zu tief. Zudem schätzen wir die einfachen und schlanken Prozesse von HSK. Wir freuen uns auf die weitere tarifpartnerschaftliche Zusammenarbeit.
Das Interview führte: Verena Haas
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Publikationsdatum
23. Juni 2021